BVerfG, [url=http://www.telemedicus.info/urteile/Kunstfreiheit/185-BVerfG-Az-1-BvR-40287-Josephine-Mutzenbacher.html]Beschl. v. 27.11.1990 - 1 BvR 402/87[/url]. wrote:b) Der Gesetzgeber durfte ohne Verfassungsverstoß davon ausgehen, daß Schriften (§ 1 Abs. 1 GjS) jugendgefährdende Wirkung haben können.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin brauchte er seine legislatorischen Maßnahmen nicht vom wissenschaftlich-empirischen Nachweis abhängig zu machen, daß literarische Werke überhaupt einen schädigenden Einfluß auf Kinder und Jugendliche ausüben können. Diese Annahme liegt vielmehr im Bereich der ihm einzuräumenden Einschätzungsprärogative. Deren Anlaß und Ausmaß hängen von verschiedenen Faktoren ab. Maßgebend sind insbesondere die Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, die Möglichkeit, sich ein hinreichend sicheres, empirisch abgestütztes Urteil zu bilden, sowie die Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter.
Die zur Vorbereitung des Vierten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (4. StrRG) vom 23. November 1973 (BGBl. I S. 1725) durchgeführte ausführliche wissenschaftlich-empirische Bestandsaufnahme hat gezeigt, daß die Möglichkeit einer Jugendgefährdung durch Schriften zwar nicht erhärtet, trotz überwiegend in die Gegenrichtung weisender Stellungnahmen aber auch nicht ausgeschlossen werden kann. Die maßgeblichen Vorarbeiten zu diesem Gesetz waren schon in der 6. Wahlperiode geleistet worden (vgl. BTDrucks. 7/80, S. 14). Die Beibehaltung des § 6 GjS damaliger Fassung wurde seinerzeit im wesentlichen im Zusammenhang mit der Novellierung des § 184 StGB (Verbreitung von Pornographie) diskutiert. Trotz umfangreicher Anhörung von Sachverständigen aus den Gebieten der Soziologie, Sexualwissenschaften, Psychiatrie, Psychologie, Pädagogik, Gerichtsmedizin, Kriminologie, Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaft sowie von Praktikern der Kriminalpolizei, Fürsorge, Jugendhilfe und des Erziehungswesens konnte der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform die Frage der Jugendgefährdung nicht einwandfrei klären. Bei aller Uneinigkeit im übrigen herrschte Einmütigkeit in der Einschätzung, daß die Beurteilung der eingeholten wissenschaftlichen Stellungnahmen über mögliche Wirkungszusammenhänge von Lektüre und psychischer Entwicklung durch das Fehlen von systematischen Untersuchungen und Langzeitstudien erschwert werde (vgl. zum Vorstehenden: Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. VI/3521, S. 1, 3, 58 ff. sowie 65 f.; zum Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens siehe insbesondere Bericht und Antrag des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. 7/514, S. 10 f. und 12 f.).
In einer solchen wissenschaftlich ungeklärten Situation ist der Gesetzgeber befugt, die Gefahrenlagen und Risiken abzuschätzen und zu entscheiden, ob er Maßnahmen ergreifen will oder nicht (vgl. BVerfGE 49, 89 [131 f.]). Zusätzliche Rechtfertigung erfährt seine Entscheidung dadurch, daß das mit der Kunstfreiheit konkurrierende Rechtsgut hauptsächlich in Art. 6 Abs. 2 Satz 1, aber auch in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verankert ist und einen dementsprechend hohen Rang einnimmt. Den ihm zustehenden Entscheidungsraum hätte der Gesetzgeber daher nur dann verlassen, wenn eine Gefährdung Jugendlicher nach dem Stand der Wissenschaft vernünftigerweise auszuschließen wäre. Davon kann nach dem Ergebnis der Beratungen zum Vierten Strafrechtsreformgesetz nicht die Rede sein.
3. Entscheidet sich der Gesetzgeber dafür, der vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit Belange des Kinder- und Jugendschutzes gegenüberzustellen, so ergeben sich aus dem Verfassungsrecht Anforderungen, denen das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften bei verfassungskonformer Auslegung genügt.
a) Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen im wesentlichen selbst zu treffen und diese nicht dem Handeln und der Entscheidungsmacht der Exekutive zu überlassen (vgl. BVerfGE 33, 125 [158]; 34, 52 [60]; 34, 165 [192 f.]; 45, 400 [417]; 47, 46 [78 f.]; 49, 89 [127]). Wie weit der Gesetzgeber die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst bestimmen muß, richtet sich maßgeblich nach dessen Grundrechtsbezug. Eine Pflicht dazu besteht, wenn miteinander konkurrierende grundrechtliche Freiheitsrechte aufeinandertreffen und deren jeweilige Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muß. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte wesentlich sind (vgl. auch BVerfGE 6, 32 [42]; 20, 150 [157 f.]; 80, 137 [161]).
b) Nach diesen Grundsätzen mußte der Gesetzgeber den Ausgleich von Kunstfreiheit und Jugendschutz im Bereich jugendgefährdender Schriften selbst regeln. Das hat er in Gestalt des § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS getan. Aus dessen Wortlaut und systematischer Stellung könnte zwar geschlossen werden, daß der Kunstvorbehalt nur für Indizierungen gilt, welche auf der Grundlage des § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 GjS vorgenommen werden, und nicht die Fälle des § 6 GjS ergreift, wonach die Folgen der §§ 3 bis 5 GjS ohne Aufnahme in die Liste eintreten. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gebietet jedoch eine verfassungskonforme Auslegung dahin, daß der Kunstvorbehalt auch im Falle des § 6 GjS eingreift (vgl. BVerfGE 30, 336 [350]).
Der Gesetzgeber darf sich zwar im Widerstreit der wissenschaftlichen Meinungen für die Auffassung entscheiden, daß Schriften im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 GjS grundsätzlich geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden.
Er darf mit Rücksicht auf die Kunstfreiheit jedoch nicht anordnen, bei einer bestimmten Art besonders gefährdender Schriften genieße der Jugendschutz stets und ausnahmslos Vorrang. Gerät die Kunstfreiheit mit einem anderen Recht von Verfassungsrang in Widerstreit, müssen vielmehr beide mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. Dabei kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu (BVerfGE 30, 173 [199]). Außerdem ist zu beachten, daß die Kunstfreiheit das Menschenbild des Grundgesetzes ebenso mitprägt, wie sie selbst von den Wertvorstellungen des Art. 1 Abs. 1 GG beeinflußt wird (vgl. BVerfGE 30, 177 [193 und 195]). Bei Herstellung der geforderten Konkordanz ist daher zu beachten, daß die Kunstfreiheit Ausübung und Geltungsbereich des konkurrierenden Verfassungsrechtsgutes ihrerseits Schranken zieht (vgl. BVerfGE 77, 240 [253]). All dies erfordert eine Abwägung der widerstreitenden Belange und verbietet es, einem davon generell - und sei es auch nur für eine bestimmte Art von Schriften - Vorrang einzuräumen.
c) Diesem Erfordernis ist nicht schon dadurch Rechnung getragen, daß die §§ 3 bis 5 GjS die Verbreitung von Kunstwerken, die als schwer jugendgefährdend einzustufen sind, nicht völlig verhindern, sondern nur Werbe- und Verbreitungsbeschränkungen unterwerfen. Die Verweisung auf die danach noch zulässigen Formen des Handels schränkt die Verbreitung der Schrift auch an Erwachsene erheblich ein und macht eine Berücksichtigung der Kunstfreiheit bei der Indizierung nicht entbehrlich. Dem Gesetz darf daher von Verfassungs wegen, insbesondere wegen der vorbehaltlosen Verbürgung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, nicht der Inhalt gegeben werden, daß das Kunstprivileg seines § 1 Abs. 2 Nr. 2 ausschließlich für Indizierungen reserviert ist, die auf der Grundlage von § 1 Abs. 1 GjS vorgenommen werden. Es läßt eine Auslegung auch in die andere, vom Grundgesetz gebotene Richtung zu. Wortlaut und Systematik streiten nicht so eindeutig in die nach dem Grundgesetz abzulehnende Richtung, daß der Wille des Gesetzgebers durch diese verfassungskonforme Auslegung in sein Gegenteil verkehrt und die Grenzen der Auslegung damit überschritten würden (vgl. BVerfGE 2, 266 [282]; 8, 28 [34]; 8, 210 [221]).
Den Materialien (siehe insbesondere Regierungsentwurf zum GjS, BTDrucks. I/1101, S. 11) ist zu entnehmen, daß der Gesetzgeber mit der sogenannten Kunstklausel (§ 1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 RegE) Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG Rechnung tragen wollte. In der Konsequenz dieses Willens liegt es, § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS auch auf § 6 GjS anzuwenden, wenn diese Bestimmung andernfalls der Verfassung widerspräche. Die § 6 GjS erfassende Geltung der Kunstklausel läßt sich auch mit dem Wortlaut der letztgenannten Bestimmung vereinbaren. Hiernach gelten die Beschränkungen der §§ 3 bis 5 GjS für die in ihren Nummern 1 bis 3 genannten Schriften, "ohne daß es einer Aufnahme in die Liste und einer Bekanntmachung bedarf". Damit ist die Deutung zu vereinbaren, eine Anwendung des § 6 GjS setze voraus, daß die Schrift überhaupt gestützt auf § 1 Abs. 1 GjS in die Liste aufgenommen werden dürfte, also kein Hinderungsgrund im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS gegeben ist. Die systematische Stellung der Kunstklausel spricht wegen dieser sinngemäßen Verweisung daher nicht zwingend gegen die von Verfassungs wegen gebotene Auslegung des § 6 in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Nr. 2 GjS. Danach ist die gesetzliche Regelung so zu verstehen, daß der Kunstvorbehalt auch bei den in § 6 GjS genannten Schriften eingreift, jedoch in diesen Fällen nicht zu einem generellen Vorrang der Kunst führt, sondern zu einer Abwägung im Einzelfall verpflichtet.